Selmar Hubert
Kindertransporte nach England
Zum Sohn der Pflegemutter geworden
Dieses ist die Geschichte von Selmar Hubert, geboren 1926 und aufgewachsen im mittelfränkischen Cronheim. Von dort verjagt mit Eltern und Schwester, als das Dorf nach dem Pogrom im November 1938 „judenrein" werden sollte. So kam die Familie nach Kriegshaber, Ulmer Straße 185. Verwandte, die Familien Moritz und Isaak Einstein, überließen ihnen ein Zimmer in ihrem Haus. „Wir hatten niemand anders. Meine Eltern waren in großer Not.“
Selmar Hubert beging in Kriegshaber seine Bar Mizwah. Das ist das Fest, mit dem die 13 Jahre alt gewordenen jüdischen Buben religiös volljährig werden.
Er berichtet: Eines Tages sagte mein Vater: „Ich habe es ganz vergessen: Du hast ja Bar Mizwah.“ Aber die Synagoge in Augsburg war demoliert, die in Kriegshaber gesperrt. Ich denke, es war vier Tage vor der Bar Mizwah, als die Nachricht kam, dass die Kriegshaberer Synagoge geöffnet würde. So fand meine Bar Mizwah am ersten Samstag, an dem in der Kriegshaberer Synagoge wieder ein Gottesdienst erlaubt war, statt. Die jüdischen Leute kamen auch aus der Umgebung von Augsburg. Die meisten waren Frauen und Kinder, denn viele Männer waren noch in Dachau eingesperrt. Es war eine sehr dramatische Bar Mizwa mit vielen Tränen. Ich werde sie nie vergessen. Der Tag, der 4. Februar 1939, war zugleich der letzte, an dem unsere Familie gemeinsam ein wichtiges religiöses Fest feierte. Das Datum dieser Bar Mizwa hat bis heute für das Leben Selmars und seiner Schwester Emmy Bedeutung. Weil die Geschwister nicht wissen, wann die 1942 aus Kriegshaber deportierten Eltern umgekommen sind, gedenken sie stets am Jahrestag des letzten religiösen Festes, das von der Familie gemeinsam begangen wurde, des Todes von Leo und Hedwig Hubert. Das Ehepaar war sich schon früh bewusst, welche Gefahr den jüdischen Deutschen drohte und wäre gern in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Aber seine Nummer auf der Warteliste für Einwanderer war zu hoch. Als Leo Hubert, in Cronheim bis ins Jahr 1938 Reisender für Seifenwaren, und seine Frau an der Reihe gewesen wären, hatten die Nazis sie längst ermordet.
Im Frühjahr 1939 erreichte die Familie Hubert in Kriegshaber die Mitteilung, dass eines ihrer Kinder nach England einreisen dürfe. Sel Hubert, wie er seinen Vornamen heute abkürzt: „Meine Eltern hatten aber zwei Kinder. Welches sollten sie retten? Schwester Emmy wurde ausgewählt, weil sie die Ältere von uns beiden war. Ihr wurde ans Herz gelegt, in England auch für mich eine Familie zu suchen." Juni 1939: Auch für Sohn Selmar ist eine englische Familie gefunden worden. Bei Familie King in Leyton bei London trifft aus Bloomsbury House in London, Sitz des Hilfskomitees für deutsche Kinder, dieses Schreiben ein: „Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass das Komitee ihre Bürgschaft überprüft und gebilligt hat und der Name von Hubert, Selmar in die am 12.6.39 nach Berlin gesandte Transportliste aufgenommen wurde. Das bedeutet ..., dass das Kind in den nächsten paar Wochen in England ankommen wird. Einzelheiten wie die Bahnstation in London sowie Datum und Uhrzeit der Ankunft werden Sie zu gegebener Zeit erfahren." Von der Reise mit dem Kindertransport ab München ist Selmar Hubert nicht viel in Erinnerung geblieben. Eingebrannt in sein Gedächtnis haben sich nur der Abschied von den Eltern, ein kurzer Halt in Holland, die Ankunft in London.
Der Abschied
Von meiner Mutter habe ich mich in Kriegshaber verabschiedet. Sie war nicht in der Lage, mit nach München zu reisen. Ich war nun schon das zweite Kind, das sie weggab. Mein Vater hat mich begleitet. Ehe er mich zum Zug mit dem Kindertransport brachte, ging er mit mir auf den Jüdischen Friedhof in München, zu den Gräbern eines Onkels und einer Tante aus Regensburg. Onkel und Tante hatten sich nach der Kristallnacht in die Donau gestürzt. Der Vater wollte mir, der ich nun allein in die Welt ging, die Lehre mitgeben, dass Juden die Pflicht haben, die Familie in Ehren zu halten und deren Gräber zu besuchen. Dann gingen wir zum Zug. Diese letzten Minuten werde ich nie vergessen. Unsere Familie war religiös. Zu jedem Sabbat am Freitagabend wurde der Kiddusch gemacht - der Vater sprach ein Gebet und segnete den Wein. Danach haben die Eltern die Hände auf die Köpfe von uns Kindern gelegt. Das hat der Vater auf dem Bahnsteig auch bei mir getan und sich dann verabschiedet. Dass ich aus dem Elternhaus musste, hat auch mich sehr, sehr berührt. Obwohl ich noch so jung war, wusste ich, dass es vielleicht mein letzter Abschied von den Eltern war. Ich wusste auch, was es für Vater und Mutter bedeutete, ihre Kinder wegzugeben; mich in die Welt zu schicken, ohne zu wissen, wo ich wohnen würde. Und wir wussten auch, dass der Krieg bald kommen würde. Das war für mich alles sehr schwer und unendlich traurig.
Holland
Von der Reise weiß ich so gut wie nichts. Natürlich, die Kinder waren sehr aufgeregt. Manche haben geweint. Andere haben in der Ecke gesessen und geschwiegen. Nach und nach haben wir dann miteinander gesprochen. Worüber? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, dass der Zug einmal gehalten hat und ein SA- oder SS-Mann durch die Abteile ging. Kann sein, dass er einige Koffer geöffnet hat. Ich erinnere mich aber noch daran, wie der Zug erstmals in Holland hielt. Da kamen holländische Frauen und haben uns zu essen und zu trinken gebracht. Das war fein. Aber mehr noch erinnere ich mich, dass mich eine große Frau umarmte und an ihren Busen gehalten hat. Da habe ich mich auf einmal so befreit und sicher gefühlt, wie ich es seit Monaten nicht mehr getan hatte. Ich habe diese holländischen Frauen nie vergessen: Sie haben gefühlt, was wir Kinder vor allem brauchten in diesem Moment. Es war phantastisch."
London
Der Bahnhof Liverpool Street: „Ich erinnere mich, dass wir in eine große Halle kamen. Da waren eine Bühne und viele Stühle. Jedes Kind trug auf der Brust ein Schild mit einer Nummer darauf. Wir Kinder setzten uns auf die Bühne und im Auditorium waren die Pflegeeltern. Es wurden immer zwei Namen aufgerufen. Zuerst der Name des Kindes, dann der Name der Pflegeeltern. Ich saß da oben als Dreizehnjähriger, schaute herunter und hoffte, dass mein Name zusammen mit einer schönen Frau aufgerufen würde und nicht zusammen mit einer Frau, die nicht so schön war. Auf einmal riefen sie meinen Namen und den von einer Frau King. So lernte ich Frau King kennen. Meine Schwester war natürlich auch da. Ich ging mit Frau King zu ihrem Haus in Leyton. Das ist ein Vorort von London. Meine Schwester wohnte ganz in der Nähe. Wir gehörten sogar zu der gleichen Synagoge."
Der Schreiner Frank King und seine Frau Anne waren außerordentlich kinderliebe Menschen. Sie hatten eine Tochter - und nahmen in der Stunde der Not vieler Juden drei Buben aus Kindertransporten dazu. Sel Hubert hat diese jüdische Familie als sehr warmherzig in Erinnerung. Kings taten alles, um ihm und zwei österreichischen Buben die Familien zu ersetzen. Ihn selbst beglückte, dass er - obwohl erst 13 - in der nahen Synagoge vorbeten durfte - „das war wunderbar." Doch wurde er aus der Familie King nach sechs Wochen wieder herausgerissen, als sich der Zweite Weltkrieg abzeichnete. Die Furcht vor deutschen Luftangriffen war groß - wie alle Kinder aus dem Großraum London wurde er evakuiert. Neuer Trennungsschmerz - den unverheilten Wunden des Abschieds von den Eltern wurden neue hinzugefügt.
Dunmow in Essex hieß die nächste Station. Wieder Kinder auf der Bühne - wieder Pflegeeltern unten im Auditorium des Schulhauses, alles war fast wie in Liverpool Station. Diesmal ist es Frau Stacey, der er in ihr Haus folgt. Auch Herr Stacey ist Schreiner, auch diese Familie - obwohl arm - hat außer ihm zwei österreichische Buben aufgenommen. Die Staceys, nicht jüdischen Glaubens, sind kinderlos.
Selmar Hubert vermutet, dass die fremden Buben den Eheleuten sozusagen eigene Kinder ersetzen sollten. Die Staceys haben sich auch bemüht, ihm als dem jüngsten sowie den beiden Österreichern ein Zuhause zu geben. Aber: Sie wussten nicht, wie man mit Dreizehnjährigen umgeht. Trotzdem bestätigt Sel Hubert: „Ich hatte wiederum Glück. Meine Erinnerungen an England und die beiden Familien sind alle positiv. Einmal sah es vorübergehend nicht danach aus. Selmar hatte am 3. September 1939 im Schulhaus Premierminister Chamberlains Kriegserklärung an Deutschland gehört. Als er ins Haus zurückkehrte, stand Frau Stacey in der Tür und verkündete: „Da mein Land seit heute mit eurem Land im Krieg ist, will ich in meinem Haus kein deutsches Wort mehr hören!" Ein Schock für die Buben - aber auch ein Glücksfall, wie Sel Hubert es heute sieht. „In wenigen Wochen sprach ich sehr gut Englisch." In Dunmow gingen die evakuierten Kinder morgens in die Schule; die Dorfjugend machte sich währenddessen in der Landwirtschaft nützlich. Nachmittags war es umgekehrt. „Gelernt haben wir nichts." Als demütigend empfand Sel Hubert es, dass er um jeden Penny, den er brauchte, an das Hilfskomitee nach London schreiben musste: „Bitte senden Sie mir fünf oder zehn Shilling für die Reparatur meiner Schuhe ..." Das sei ihm so schwer gefallen, dass er schließlich mit Löchern in den Schuhen herumlief und sich keine neuen Schuhe kaufen wollte. Nach einem Jahr verließ Sel Hubert die Schule und arbeitete im Büro einer Autowerkstatt. Bald darauf schlug das Komitee vor, er solle Rabbiner werden. Obwohl sehr religiös, lehnte er das ab. Stattdessen ließ er sich ab 1942 als Automechaniker ausbilden, ein Beruf, der ihn eigentlich wenig interessierte. Wieder ein Abschied! Für die Lehre musste er die Staceys verlassen. Ein Wohnheim in Cambridge mit lauter elternlosen jungen Leuten aus Kindertransporten wurde sein nächstes Zuhause. Zwei Jahre später meldeten sich überraschend Verwandte aus New York: „Komm hierher." Die Entscheidung fiel Sel Hubert leicht. In England galt er wie die anderen Buben und Mädchen der Kindertransporte als staatenlos und hatte die Erfahrung gemacht, dass der Status, zu keinem Land zu gehören, „fürchterlich ist". So hatte er sich, kaum dass er 18 geworden war, zur englischen Armee gemeldet - in der stillen Hoffnung, dann bald britischer Bürger zu werden. Aber diese Garantie gab ihm niemand. Wer in der US-Armee diente, sei dagegen zu jener Zeit fast automatisch auch amerikanischer Staatsbürger geworden, berichtet Sel Hubert.
Im Februar 1945 schiffte er sich in einem Waliser Hafen ein. Die Reise hat er nicht gerade in guter Erinnerung. Sein Bananendampfer sei der deutschen Unterseeboote wegen in einem Geleitzug gefahren und drei Wochen im stürmischen Nordatlantik herumgeworfen worden. In Halifax im kanadischen Neuschottland ging er an Land, froh darüber, die Seefahrt hinter sich zu haben; reiste mit der Bahn weiter nach New York; lebte kurze Zeit bei Onkel und Tante in Washington Heights, damals wegen der vielen dort wohnenden jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland „das vierte Reich" genannt. Der Onkel ist ein Bruder des Vaters. Lange Zeit hatte er nichts vom Auswandern gehalten. „Die Verfolgung geht vorüber - die Deutschen sind ein Kulturvolk" war seine Meinung gewesen. Erst nach dem Novemberpogrom 1938 hatten er und seine Frau die Koffer gepackt und über Kuba schließlich die Vereinigten Staaten erreicht.
Im Juli 1945 wurde Selmar Hubert zur US-Luftwaffe einberufen. Eine Woche später sei der Zweite Weltkrieg auch im Fernen Osten zu Ende gegangen, die Japaner hätten wohl davon gehört, dass er nun im Anmarsch sei, scherzt er. Nach der Grundausbildung wurde er in Washington der Abteilung zugeordnet, die Präsidenten und Minister zu fliegen hatte. Aus dieser Zeit datiert eine Begegnung mit Robert Jackson. Der Hauptankläger der USA beim Internationalen Militärtribunal war auf dem Weg nach Nürnberg. „Ich habe ihn gefragt, ob ich ihn ein paar Minuten sprechen dürfte. In einem Nebenraum hörte er sich meine Geschichte eine halbe Stunde lang an. Bevor er ging, hat er mir versichert, in Nürnberg gerecht über die Nazi-Kriegsverbrecher urteilen zu wollen, was er auch getan hat. Selmar Huberts Jugend ist überschattet gewesen von der Verfolgung in Deutschland, dem Abschied von den Eltern, der Ungewissheit über deren Schicksal. Nur bis zum 12. Lebensjahr hat er regelmäßig die Schule besuchen können. Umso erstaunlicher, wie weit er es später beruflich gebracht hat. Er hat in Amerika Universitäten besucht, ist zuerst Ingenieur geworden, schließlich ein Vierteljahrhundert Manager beim weltbekannten Konzern ITT gewesen. Fünf Jahre verbrachte er in dessen europäischer Zentrale in Brüssel als Chef der Gehaltsabteilung; und obwohl inzwischen über 70 Jahre alt, berät er nach wie vor eine bekannte amerikanische Firma. Geschenkt worden ist Selmar Hubert das alles nicht. Die Karriere ist das Ergebnis harter Arbeit. Jahrelang hat er tagsüber als Ingenieur gearbeitet und abends in den Hörsälen gelernt. Mit den Eltern konnte er dank der Vermittlung des Roten Kreuzes einige Jahre lang Briefe wechseln. 1942 erreichte ihn von Moritz Einstein aus Kriegshaber die Nachricht, dass seine Eltern „verreist" seien, er solle seine Briefe nun an ihn richten. Erst im November 1946 erfuhr er, dass die „Reise" seine Eltern ins polnische Piaski geführt habe und dass sie von dort niemals zurückkehren würden. Aber diese Mitteilung des Roten Kreuzes sei nichts anderes mehr als eine Bestätigung dessen gewesen, was er mittlerweile über das Schicksal der europäischen Juden erfahren hatte; er habe damals längst alle Hoffnung auf ein Wiedersehen aufgegeben gehabt.
Aber ist das wirklich so? Als er das ehemalige Konzentrationslager Dachau besucht habe, als er in Jerusalem gewesen sei oder wenn er Filme aus Lagern sehe - immer suche er nach den Gesichtern der Eltern, berichtet Selmar Hubert: „Ich suche danach bis heute, obwohl sie doch mittlerweile um die 100 Jahre alt wären; und immer denke ich: Was würde ich tun, wenn ich sie auf einmal wiederfände? Was würden meine Eltern sagen, wenn sie mich fänden?“
Einmal hat Selmar Hubert einen Augenblick geglaubt, das Wunder, auf das er in seinem tiefsten Innern immer noch hofft, werde Wirklichkeit. Bei einem Besuch in Israel sah es für die Dauer eines Herzschlags sogar danach aus. Auf dem Bildschirm eines Computers las Selmar Hubert plötzlich, dass Leo und Hedwig Hubert in Jerusalem seien... „Wie ich das gesehen habe, hab' ich gezittert. Aber es war ein Fehler des Computers. Der hat nur bestätigt, dass die Eltern nach Piaski gebracht worden sind. Ich kann gar nicht schildern, wie mir in diesen Sekunden zumute war. Nicht nur, weil ich einen Augenblick lang annahm, dass sie noch lebten - nein, ich dachte: Was sag' ich denn zu ihnen?" Der Computer hat ihm damals auch Namen und Adressen von 25 Männern und Frauen genannt, die in Piaski gewesen waren. Selmar Hubert hat so viele wie möglich telefonisch angerufen und sie nach seinen Eltern gefragt - es sei furchtbar gewesen. Niemand habe etwas gewusst. Sel Hubert hat mehr als dieses eine Mal verspürt, wie schwer die Last der Erinnerung zu tragen ist. Nicht nur weil Frau Stacey mit dem Tag der Kriegserklärung kein deutsches Wort mehr in ihren vier Wänden hören wollte, hatte er in wenigen Wochen Englisch gelernt.
Er hatte damit zugleich in kürzester Zeit seine Muttersprache zu verdrängen versucht. „Ich hab' nur noch Englisch gesprochen und auch jedes Wort, jede Melodie in Hebräisch behalten - die deutsche Sprache aber verloren. Ich wollte mich auch sprachlich trennen von allem, was mein Leben verdorben hatte." Erst als er beruflich nach Brüssel gekommen sei und auch mit dem ITT Unternehmen in Deutschland zu tun hatte, habe er die Muttersprache wieder fließend erlernt. Oder der erste Besuch in Deutschland 1962. Zwei Tage war Sel Hubert in Berlin und „wollte jeden an die Wand nageln: 'Warst du Nazi, was hast Du gewusst?" Und nach dem Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Dachau hielt er es in Deutschland nicht mehr aus. „Ich musste 'raus"! Selmar Hubert hat sich - wie so viele Überlebende des Holocaust - auch jahrelang mit der Frage herumgequält, wie denn sein Gott Auschwitz zulassen konnte und warum er selbst nicht zu den sechs Millionen Opfern gehört, sondern überlebt hat? Trotz seiner Fragen und Zweifel wusste und weiß er sich seinem Gott in vielen Momenten seines Lebens sehr nahe. Er ist sich heute auch sicher, dass es doch einen Zweck hatte, gerettet worden zu sein: „Der Zweck ist, dass ich mit meinem Leben etwas Positives tue. Das versucht er. 25 Jahre lang hat er über seine Vergangenheit nicht sprechen können, weder mit der Familie noch mit der - durch den Kindertransport ebenfalls geretteten - Schwester Emmy. Heute spricht er - vor allem mit jungen Menschen in Amerika, damit die Vergangenheit sich in der Zukunft nicht wiederholen kann. Mit seiner Geschichte, mit der Auseinandersetzung über den Sinn der Leiden des jüdischen Volkes hängt auch zusammen, dass in seinem Leben nichts wichtiger ist als die Familie. Auch seine Frau Hilda, geb. Simon stammt aus Deutschland, aus Kaiserslautern. Sie war vor den Nazis mit ihren Eltern zuerst nach Frankreich geflohen, 1940 von Marseille aus in die Vereinigten Staaten gekommen. 1963 haben die beiden geheiratet. „Wir haben gelernt, dass man Vermögen und andere Schätze verlieren kann. Aber was mit der Familie zusammenhängt, kann nie weggenommen werden. Was ich jetzt bin, ist das Resultat dessen, was ich von meinen Eltern habe und was sie mich gelehrt haben. Ich hinterlasse eines Tages, was meine Kinder Steven und Linda sind: Ob sie gute Menschen geworden sind, ob sie gute Juden sind, ob sie gut zu anderen Menschen sind, wie sie ihre Kinder erziehen.“
Selmar Hubert sieht sich als Glied in einer Kette. Der Großvater und der Vater seien Vorsitzende der kleinen Cronheimer Judengemeinde gewesen, er selbst Vorsitzender der großen Gemeinde, der er und seine Frau vor den Toren New Yorks angehören. Obwohl der dreizehnjährige Selmar 1939 nur einen kleinen Koffer auf seine große Reise in eine ihm unbekannte Welt mitnehmen konnte, hat er damals ein Gebetbuch und einen Gebetsschal eingepackt - „das war mir wichtig." Beides hat er auch von England aus mit in die USA genommen. Als sie heirateten, wollten Sohn Steven und Schwiegertochter Randy, dass der Vater diesen Schal über sie legte. So wollten sie Vorfahren, Großeltern, Eltern ehren und die Verbundenheit mit ihnen deutlich machen. Sel Huberts Geschichte wäre nicht vollständig, ohne nochmals seine englischen Pflegeeltern Stacey und King zu erwähnen. Er hat die Verbindung zu ihnen nie abreißen lassen. Briefe sind hin und her gewandert, er hat die Staceys und die Kings mehrfach besucht. Herr Stacey ist früh gestorben. Bei Frau Stacey ist Selmar Hubert noch kurz vor deren Tod im Hospital gewesen. Bis heute gibt es Kontakt zu deren Neffen. Obwohl Selmar Hubert nur eineinhalb Monate ein „Pflegekind" der Kings in Leyton sein konnte, müssen diese ihn ganz besonders tief ins Herz geschlossen haben. Die Kings und die Huberts haben sich gegenseitig in England, Belgien, Amerika besucht. Auch Tochter Ruth mit Mann und Kindern ist schon bei den Huberts gewesen. Als Frau King gegen Ende ihres Lebens sehr krank wurde, ist der Pflegesohn von einst nochmals zu ihr nach England geflogen. Auf ihren Grabstein hat die alte Dame mit dem guten Herzen schreiben lassen: „Hier ruht Anne King - betrauert von ihrer Tochter und ihrem Sohn." Selmar Hubert: „Sie hat aber niemals einen Sohn gehabt. Damit bin ich gemeint. Es war wirklich eine Verbindung wie zwischen Eltern und Kind.“
© In der Fremde leben meine Kinder von Gernot Roemer